DFB-Team sucht Balance zwischen Bremse und Euphorie (2024)

Was bedeutet das 5:1 eigentlich? DFB-Team sucht Balance zwischen Bremse und Euphorie

Von Sebastian Schneider, München 15.06.2024, 19:13 Uhr

Das erste rauschende Fest der Heim-EM ist geschafft, da bleiben am nächsten Tag vor allem viele Fragen. Wie gut ist die Fußball-Nationalmannschaft denn nun? Der Auftakt gegen Schottland liefert Hinweise, aber noch keine abschließenden Antworten.

Es ist der Mittag danach: Tiefe Augenringe beherrschen den Münchner Hauptbahnhof. Beim Bäcker wird eher leise gesprochen, für einen grauen Junitag sind auffällig viele Menschen mit Sonnenbrillen in den Bahnhofshallen unterwegs. Einige Schotten trinken wahlweise mit Bier oder Wasser gegen die Kopfschmerzen an, andere kämpften schon tief in der Nacht vor ihrem Hotel noch mit der nächsten bitteren Erkenntnis: dass nach der 1:5-Abreibung gegen die DFB-Elf der Flug schon um sechs Uhr morgens wieder zurückgeht.

Egal, ob im Deutschland- oder Schottlandtrikot: Das Bild ist das gleiche. Nach dem rauschenden Auftakt in die Heim-Europameisterschaft legt sich der große Kater über München. Während beim schottischen Anhang Rückreise und Rechnerei beginnen (vier Punkte würden doch reichen, oder?), bleibt auf der anderen Seite die Frage, die sich nach einer durchzechten Nacht am nächsten Morgen häufig stellt: Was war das eigentlich? War die DFB-Elf jetzt so gut oder die Schotten so schwach? Waren die Nagelsmänner wirklich so überragend, dass die Gäste keinen Torschuss abgegeben konnten?

Die Protagonisten sahen die ganze Thematik noch am Abend im Bauch der Allianz Arena relativ ähnlich - nur drückten sie sich unterschiedlich deutlich aus. Da war der Bundestrainer. "Am Ende bin ich weit davon weg, ein Mahner zu sein", sagte Julian Nagelsmann. "Es macht wenig Sinn, jetzt zu viel zu bremsen. Wir wissen, wir haben ein Spiel gewonnen, aber wir müssen mindestens noch eins gewinnen." Da war auch der von den vergangenen Turnieren gebrandmarkte Thomas Müller, der dem Ganzen noch nicht so richtig traut. "Dieses Emotionsgedusel liest sich zwar ganz nett, aber es trägt dich keiner durchs Turnier", diktierte er in die Aufnahmegeräte. "Du musst die Spiele gewinnen. Dementsprechend sind die Punkte entscheidend."

Ohne Erkenntnisse? Keineswegs!

Tatsächlich bleibt die Frage, wie aussagekräftig ein 5:1 gegen eine schottische Mannschaft ist, die praktisch kaum bis wenig Gegenwehr geleistet hatte. Zudem waren sie ja auch noch eine Halbzeit in Unterzahl. Kein einziger Torschuss, kaum Ballbesitz, gar nicht erst der Versuch, einmal einen Konter zu Ende zu fahren: Und dennoch gibt es für das DFB-Team einige wichtige Erkenntnisse.

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Der Schleier der Unwissenheit, der auf den Nagelsmännern vor der Heim-EM lag, er lichtet sich so langsam. Die Druckkulisse vor dem vielleicht wichtigsten Eröffnungsspiel jemals war groß. Auch wenn es die Protagonisten vorher nicht zugeben wollten, ein Dämpfer zum Anfang und es wäre schwer gewesen, aus dem Loch wieder herauszukommen. Da hätten die sehr lauten schottischen Fans ihr Übriges tun können. Doch es gab kein Nervenflattern, kein Lampenfieber. Nach 50 Sekunden vergibt Florian Wirtz eine Topchance, auch wenn ein Tor wegen Abseits ohnehin nicht gezählt hätte. Aber das war stark. Das Team hielt dem Druck stand.

Ja, es gilt die Einschränkung, dass die Schotten erstaunlich schwach waren, aber: Der Plan des Bundestrainers geht auf. Die Kombination aus Arbeitern, Zauberern und Verbindungsstücken funktioniert. Die Freigeister Wirtz und Jamal Musiala dribbeln und treffen sogar. Den eher skeptischen Müller hat danach gefreut, "dass sie sich selbst und der deutschen Fußballnation gezeigt haben, dass sie nicht nur vom Potenzial kommen, sondern auch richtige Macher sind".

Dass sie so glänzen konnten, war auch der Verdienst der beiden Verbindungsstücke. Toni Kroos und İlkay Gündoğan erfüllten ihre Aufgaben mit Freude und Perfektion. Während der eine mit "Toni, Toni, Toni"-Rufen vom Publikum gewürdigt wurde, blieb der andere der stille Held, der alle um sich herum besser machte. Die Joker stachen, sogar der nachnominierte Emre Can.

Im dichten Nebel bleibt dagegen die Defensive. In dem Dauerthema um Torwart Manuel Neuer gibt es kein neues Kapitel, weil der zuletzt regelmäßig patzende Torwart nichts zu tun hatte. Auffällig war nur, dass er vor allem in der ersten Hälfte die wenigen Bälle, die er bekam, ungewöhnlich oft nicht mit kurzen, sondern langen Bällen gelöst hat. Zur Abwehr gibt es auch nicht viel mehr zu sagen. Wie sieht es bei Rechtsverteidiger Joshua Kimmich gegen schnelle Flügelstürmer aus? Man weiß es nicht. Und ist die Innenverteidiger-Kombination aus Jonathan Tah und Antonio Rüdiger wirklich so stabil, wie alle sagen? Unklar.

Das verflixte zweite Gruppenspiel

"Es gibt wenig daran drum herumzureden", fasste der eingewechselte Niclas Füllkrug den Abend zusammen. "Wir haben eine sehr gute erste Halbzeit gespielt, da haben wir das Spiel schon auf unsere Seite gebracht, so, dass gar nichts mehr schiefgehen kann."

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Und jetzt? Es wartet das klassische schwierige zweite Gruppenspiel. Bei erfolgreichen Turnieren war es immer wieder eine zähe Angelegenheit: 2014 gab es das 2:2 gegen Ghana, 2016 das 0:0 gegen Polen. Komischerweise waren die zweiten Vorrundenspiele in Katar und Russland die einzigen Hoffnungsschimmer, in ansonsten grausigen Turnieren für das DFB-Team.

Diesmal kommt Ungarn am Mittwochabend nach Stuttgart. Es sei ein unangenehmer Gegner, sagte Nagelsmann, der schwer vorzubereiten sei. "Sie haben teilweise einen wilden Aufbau", seien schwer zu packen. "Da sind viele Freigeister unterwegs. Szoboszlai ist der Schlüsselspieler", erklärte der Bundestrainer. Ein Sieg und die DFB-Elf kann praktisch das Achtelfinale buchen. Aber Obacht: Trotz der ganz schlechten Leistung bei der 1:3-Pleite gegen die Schweiz an diesem Samstagnachmittag: Normalerweise ist das Team die Art Gegner, die der DFB-Elf in der jüngeren Vergangenheit immer wieder wehgetan hat.

Nach dem 5:1-Rausch könnten all diese Zweifel beiseite gewischt sein. Eigentlich. Doch auch das ist eine neue Erkenntnis aus den vergangenen Turnieren: Skepsis. Irgendjemand bremst die Euphorie, bevor Ergebnisse von sich aus dafür sorgen. Und wenn schon der Bundestrainer kein Mahner sein will, ist da ja noch Thomas Müller. Von einem schottischen Journalisten wurde er gefragt, ob die guten alten Zeiten zurückkehren? Ist Deutschland wieder eine Turniermannschaft, so wie es vor 2018 gewesen war? Muss man wieder Angst vor dem DFB-Team haben? "Die Energie ist gerade sehr gut", lacht Müller. "Aber die Energie kann auch schnell verschwinden: mit einem schlechten Ergebnis." Vor allem in der K.-o.-Runde. Er weiß, wovon er spricht. Vor drei Jahren schied man schließlich schon im EM-Achtelfinale gegen England aus.

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